„Es sah so aus, als würde der Lkw Walzer tanzen.“ So beschrieb die Zeugin E. den Vorlauf zum Unfall, der der 23jährigen Polizeibeamtin Yvonne N. das Leben nahm. Ihre Kollegin, Sandra W. (49), die am Steuer saß, erleidet schwere Kopfverletzungen. Der dritte Insasse, der Polizeibeamte, Jonas H. (22), der vorne rechts im Wagen saß, wird leicht verletzt. Die 2. große Strafkammer des Landgerichts Mönchengladbach saß über den aus der Ukraine stammenden Valerii Y. zu Gericht und fällte ein für viele Prozessbeobachter mildes Urteil.
Der Angeklagte wurde in Kiew im März 1969 als Sohn eines Lagerverwalters und einer Landarbeiterin geboren. Valerii Y. hatte zwei Brüder, die inzwischen verstorben sind. Vorbestraft ist er nicht. Er war verheiratet, wurde im Jahr 2017 geschieden und hat eine 26jährige Tochter. Inzwischen hat er eine neue Partnerin. Mit 32 und 33 Jahren hat er jeweils Schlaganfälle erlitten, von denen er sich aber wieder erholte. Wegen eines chronischen Hüftleidens hat er häufig Schmerzen (nach seiner Festnahme wurde er in einem Justizkrankenhaus operiert).
Er arbeitete als Kraftfahrer; diesen Job hat er infolge der Tat inzwischen verloren. Seit drei Jahren fuhr er regelmäßig auf Routen durch die Ukraine, Polen, Deutschland, Belgien, die Niederlande. Im Durchschnitt war er ein- bis zweimal monatlich im Ausland unterwegs. Ende Dezember 2017 fuhr er mit einer Sattelzugmaschine Typ DAF (mit Anhänger) aus der Ukraine nach Belgien, um dorthin eine Ladung Grillkohle zu transportieren. Auf einem niederländischen Rastplatz traf er sich mit anderen Fahrern; dabei wurde viel getrunken. Er hatte von seinen Hüftschmerzen erzählt, und die Kollegen empfahlen ihm, diese mit Alkohol zu betäuben. Y. hatte selbst einen umfangreichen Vorrat an Spirituosen; u.a. wurde bei ihm ein (zur Hälfte geleerter) Drei-Liter-Schlauch mit Wodka gefunden. Er gab an, er habe die Alkoholika für eine Silvesterfeier besorgt. Nach dem ausgiebigen Alkoholkonsum habe er nicht weiterfahren, sondern erst einmal schlafen wollen. Das wäre kein Problem für ihn gewesen, denn ein fester Liefertermin war nicht vereinbart worden. Dann aber fuhr Y. etwa um 20 Uhr 30 aus ungeklärten Gründen weiter und zwar in eine andere Richtung als vorgesehen. An die Fahrt will er sich nicht mehr erinnern; er habe einen „Filmriß“, der von der Zeit vor seiner Fahrt bis nach dem Unfall andauert.
Zahlreiche andere Verkehrsteilnehmer bemerkten, daß er mit dem Lkw Schlangenlinien fuhr und informierten die Polizei. Auf einem Standstreifen in der Höhe der Ausfahrt Mackenstein (auf der A 61) wartet ein Polizeiwagen aus Viersen mit den erwähnten drei Insassen auf ihn. Er steht in der gleichen Fahrtrichtung, aber auf der linken Seite. Der Lkw fährt auf ihn auf. Der Aufprall ist so heftig, dass der Streifenwagen etwa 200 m weiter verschoben wird.
Yvonne N., die hinten im Auto sitzt, wird dabei von dem Gepäckgitter getroffen und stirbt.
Für die Eltern von Yvonne N. ist es besonders schwer, an diesem Prozeß teilzunehmen; bisweilen halten sie sich an den Händen, um die Verhandlung besser durchstehen zu können.
Zu dem Fall werden mehrere Gutachter gehört: der KfZ-Sachverständige Peter Loskant sagt aus, Valeriis Lkw und der Streifenwagen der Polizei seien in einem einwandfreien technischen Zustand gewesen. Kurz vor der Kollision sei der Lkw mit 82 km/h gefahren, habe dann auf 71 km/h abgebremst. Der Lkw-Fahrer hätte den Polizeiwagen früh bemerken müssen und (im nüchternen Zustand) ausreichend Zeit gehabt, um eine Kollision zu vermeiden. Ein Rechtsmediziner der Universität Düsseldorf, Dr. Benno Hartung, erläutert, Yvonne N. habe bei dem Zusammenprall viele Verletzungen erlitten, darunter eine am Großhirn, die sofort tödlich gewesen sei. Der Sachverständige hat außerdem mit weitergehenden Methoden den Blutalkohol des Angeklagten untersucht. Valerii Y. hat in den letzten zwei bis drei Wochen vor dem Unfall viel Alkohol konsumiert. (Medikamente oder Drogen, so wurde festgestellt, hatten keinen Einfluß auf sein Fahrverhalten.)
Wenn Alkoholkonsum den Tod eines Menschen zur Folge hat, ist dies zumindest ein klarer Fall von Alkoholmissbrauch. Der psychologische Sachverständige Dr. Martin Albrecht glaubt nicht an eine Alkoholsucht beim Angeklagten. Der Angeklagte habe sich im Übrigen nicht in einem Vollrausch, sondern in einem „mittelgradigen Rausch“ befunden. (Die Mengen an Alkohol, die bei einem Menschen einen mittelgradigen oder einen Vollrausch verursachen können, sind individuell verschieden; bei manchen genügen für einen Vollrausch bereits 1,5 Promille.) Mit einem Vollrausch hätte der Angeklagte nicht mehr 40 km weit fahren können. Er war nach seiner Festnahme z. B. noch imstande zu gehen und zu reden. Ein Rausch kann eine Amnesie verursachen (eine Amnesie läßt sich allerdings medizinisch eindeutig, z. B. durch eine Computertomographie, nicht nachweisen). Symptome eines mittelgradigen Rausches sind Leichtsinn, Beeinträchtigungen der Wahrnehmung und ein verlangsamtes Reaktionsvermögen – eine fatale Kombination. Die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten sei folglich durch den Alkoholkonsum beeinträchtigt worden. Einen Vorsatz könne man ausschließen.
Zur Frage, ob der Angeklagte seine Tat bereue, gingen die Meinungen auseinander. Das Gericht glaubt an die Reue des Angeklagten; wenn er diese nicht so deutlich gezeigt habe, liege dies vor allem an der fremden Umgebung in einem Land, das er nur als Durchgangsstation seiner Fahrten gekannt habe.
Das Gericht stellt auch fest, daß viele Details des Geschehens am Unfalltag leider nicht geklärt werden konnten (das liegt u.a. daran, daß ein deutsches Gericht im Ausland lebende Zeugen nicht zum Erscheinen zwingen kann.) Auch die Ladungspapiere des Lkw sind nicht gefunden worden. Das Gericht befindet den Angeklagten u.a. der fahrlässigen Tötung für schuldig und verurteilt ihn zu zwei Jahren und zehn Monaten Gefängnis (Az 22 KLs 12/18). Das Urteil ist rechtskräftig.
Rhenanus
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