Europas offene Grenzen laden natürlich ein, das Glück dort zu suchen. Einer von denen, die das als Chance sahen, heißt Aden M. und machte sich von Somalia auf und sitzt nun in Mönchengladbach im Gefängnis, verurteilt zu acht Jahren Freiheitsstrafe u.a. wegen versuchten Mordes.
Am 23. März 2017 morgens gegen 10 Uhr wird in der Asylbewerberunterkunft in Mönchengladbach auf der Carl-Diem-Straße Feueralarm ausgelöst. Das war schon zuvor gelegentlich passiert, aber nur, weil Bewohner gegen das Rauchverbot verstießen. Diesmal ist es Ernst. Eine Rauchwolke ist auch aus der Ferne zu sehen. Anwohner der Carl-Diem-Straße werden (über Radio 90,1 und eine spezielle Warn-App) aufgefordert, Fenster und Türen zum Schutz vor Rauch geschlossen zu halten. Die Insassen der Unterkunft in Containern werden unverletzt aus der Feuersbrunst evakuiert; nur einer wird mit dem Verdacht auf Rauchvergiftung ins Krankenhaus eingeliefert. Um 12 Uhr 40 kann die Bevölkerung in der Nähe des Brandherds aufatmen; die Warnungen werden aufgehoben. Die Nachlöscharbeiten ziehen sich allerdings noch über längere Zeit hin.
Gezündelt hatte Aden M. ungefähr so wie vor einiger Zeit Asylbewerber, die in einer Düsseldorfer Messehalle untergebracht waren. Wie man hörte, hatte ihnen das Essen nicht geschmeckt, und die ganze Halle ging in Flammen auf.
Am 22. März ist Aden M. in einer besonders schlechten Stimmung. Er hat sein Handy auf den Boden geworfen, sich später darüber geärgert, dass es unbrauchbar geworden ist. Er tritt die Tür seines Zimmers ein. Er will auf seinem Zimmer essen, was zumindest offiziell nicht gestattet ist. Er ist vorher (die Ursache konnte nicht festgestellt werden, wie das Gericht hinterher feststellt) verletzt worden, blutet an der Nasenwurzel; auch sein Hemd und seine Hände sind voller Blut. Zwischen zwei und drei Uhr nachts kommt es zu einem Tumult, an dem auch viele andere Insassen beteiligt sind. Die Polizei erscheint und sperrt den leicht angetrunkenen Aden ein. Am nächsten Morgen wird er wieder entlassen. Eine Polizistin erhält die Anweisung, sie solle ihn freilassen, wenn er seine Drohungen nicht wiederhole. Aden beteuerte, so wird berichtet: „Nix Feuer, nix machen!“ Sie ermahnt ihn: „Wenn Feuer, dann du Gefängnis!“ Sie kannte ihn schon vorher, hat seine Ausraster miterlebt. In seiner Zelle sei er ruhig gewesen. Nach seiner Freilassung hat der Angeklagte bald „nachgeladen“. Er kauft eine Flasche Wodka, trinkt die Hälfte davon, geht zu einem vereinbarten Termin beim Jobcenter und wird dort wegen seines wieder angetrunkenen Zustandes abgewiesen. Als er in der Unterkunft ankommt, legt er den Brand. „Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll. Ich war an dem Tag nicht bei Sinnen. Aber ich weiß, dass ich das angezündet habe, dass alles gebrannt hat – in Zimmer 26“, erfahren Zuhörer bei der Verhandlung. Er zündet in seinem Zimmer mit einem Feuerzeug eine Decke an und legt sie auf seine Matratze. Dann setzt er sich daneben. Das Feuer entwickelt sich schnell, denn durch die defekte Tür kann mehr Sauerstoff einströmen und den Brand richtig auflodern lassen. Der Rauchmelder schlägt Alarm. Ein Mann von der Security versucht zu löschen – vergeblich. Zu diesem Zeitpunkt befinden sich viele Bewohner in der Unterkunft; einige schlafen noch. Wie schon vorher erwähnt, können alle Bewohner gerettet werden, der Sachschaden ist enorm. Der rechte Trakt stürzt ein. M. hat sich mit einem Sprung aus dem Fenster gerettet.
Die Anklage der Staatsanwaltschaft vor dem Landgericht in Mönchengladbach lautete auf Mordversuch in Tateinheit mit besonders schwerer Brandstiftung. Das Gericht hat einiges unternommen, herauszufinden, ob das den Tatsachen entspricht und hat sich von der Person des Angeklagten ein Bild gemacht.
Der Angeklagte Aden M. wurde in Somalia geboren. Der offizielle Tag seiner Geburt ist der 31. Dezember 1995. Man darf aber an der Exaktheit dieses Datums zweifeln (der Bürgerkrieg in Somalia erleichterte nicht gerade eine präzise Erfassung der Lebensdaten seiner Bewohner). Nach einem Gutachten über seine körperliche Entwicklung ist er ein Erwachsener.
Ein normales Familienleben hat der Angeklagte (Aden ist Einzelkind) nicht erlebt. Er musste, wie das Gericht auch später in seinem Urteil feststellt, schon früh um seine Grundbedürfnisse kämpfen. Seinen Vater hat er nicht gekannt; dieser ist wahrscheinlich im Bürgerkrieg gefallen. Auch seine Mutter verlor er, als er (nach seinen Angaben) sieben Jahre alt war. Die Frage, woran sie gestorben sei, ist nicht zu beantworten. Nach dem Tod der Mutter wurde M. von seiner Oma großgezogen. Diese habe er mit 15 Jahren verloren. Etwa ein Jahr vor ihrem Tod verheiratete sie ihn mit einem Mädchen (solche frühen Eheschließungen sind in seiner Heimat üblich). Im Jahr 2014 begann die Flucht des Paares über mehrere afrikanische Länder nach Europa. Das Paar gelangte schließlich über Italien nach Deutschland. M., der seiner Frau voraus fuhr (die Umstände der Trennung sind laut seinem Verteidiger Meister nicht geklärt), kam bis Trier, wo er festgenommen wurde. Er wurde zuerst in ein Jugendheim gebracht, dann in ein Erwachsenenheim und schließlich nach Mönchengladbach, u.a. in Unterkünfte in Odenkirchen, Rheydt, und schließlich landete er in dem Wohncontainer auf der Carl-Diem-Straße in der Nähe des Volksgartens. Seine schwangere Frau war in Bayern verhaftet worden. Im Jahr 2014 brachte sie dort einen Sohn zur Welt. Aber M. erfuhr auch eine Hiobsbotschaft: seine Frau hat Aids (er selbst und sein Sohn haben diese Krankheit nicht). Sie lebt jetzt mit dem Kind in Augsburg. Aden klagt, er könne sie nicht besuchen. Seine Arbeitssuche war erfolglos. „Jedes Mal sagt die Frau vom Jobcenter, ich solle wiederkommen.“ Der Angeklagte hat nur einige wenige Jahre die Schule besucht und keine Berufsausbildung gemacht; in Somalia verdiente er sein Geld durch Autowaschen.
In Deutschland ist er bereits straffällig geworden. Im Juni 2016 verurteilte ihn das Amtsgericht Rheydt zu sieben Monaten Haft mit Bewährung wegen gefährlicher Körperverletzung. (Andere Verfahren wegen Körperverletzung und Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz laufen noch.) Deshalb ist ihm auch untersagt worden, Mönchengladbach zu verlassen. Sein Asylantrag ist abgelehnt, er ist geduldet. Wie bei der Verhandlung zu erfahren, nimmt Aden M. häufig Hasch und ist wahrscheinlich alkoholabhängig. Er verliert infolgedessen mehrmals täglich die Kontrolle und weiß hinterher nicht, was er getan hat. „Ich konnte nie klar denken.“ Ein Zeuge beschreibt ihn als in sich gekehrt; er habe seine Gefühle wahrscheinlich nur im Rauschzustand „rauslassen“ können.
Zu den Tatmotiven des Angeklagten trägt der Sachverständige Dr. Martin Albrecht sein Gutachten vor. Er diagnostiziert bei ihm ein „präsuizidales Syndrom“. Die davon betroffenen hätten das Gefühl, „eingemauert“ zu sein, keine Perspektiven mehr zu haben. Wenn sie ihren Selbstmordversuch überlebten, könnten sie ihre Tat hinterher nicht verstehen. Dem widerspreche auch nicht Adens vorheriges Benehmen den Mitbewohnern und den Sicherheitsleuten gegenüber. Es habe bei ihm wahrscheinlich eine „Aggressionsumkehr“ stattgefunden. Einer Autoaggression, also einer gegen die eigene Person gerichteten Gewalthandlung, gehe oft eine erfolglose Aggression gegen andere Personen voraus – wie eben in diesem Fall. Der Angeklagte habe die Gefahr nicht wahrgenommen, die er mit dem Feuer für die anderen Insassen heraufbeschworen habe. Wenn man nur noch an das „Auslöschen“ des eigenen Daseins denke, habe man einen verengten Horizont. Zum „präsuizidalen Syndrom“ gehöre auch eine gewisse Irrationalität, wie im Fall von Aden das bloße Abwarten. Der Angeklagte sei nur eingeschränkt für seine Tat verantwortlich. Die Wiederholungsgefahr bewertete der Sachverständige als gering. Dr. Albrecht räumte allerdings ein, dass man das Verhalten des Angeklagten auch in einem anderen Sinne deuten könne. Man könne sowohl Selbstmord- als auch Mordabsichten bei ihm vermuten.
Das Gericht befindet schließlich, wie eingangs erwähnt, den Angeklagten des versuchten Mordes u.a. in Tateinheit mit schwerer Brandstiftung für schuldig und verurteilt ihn zu acht Jahren Freiheitsstrafe, weitgehend in Übereinstimmung mit dem Plädoyer des Staatsanwalts. Dieser hatte vermutet, dass der Angeklagte die Unterkunft unbewohnbar machen und dadurch seine Verlegung erreichen wollte. Von einer Selbstmordabsicht ist das Gericht nicht uneingeschränkt überzeugt: der Angeklagte habe zwar das Bett angezündet, aber z. B. nicht seine eigene Kleidung. Er habe sich auch nicht in die Flammen gestürzt, nachdem die Security-Leute den Brand entdeckt hatten. Das Gericht sah ferner einen bedingten Vorsatz (dolus eventualis) als gegeben an. So etwas liegt vor, wenn jemand den Tod eines oder mehrerer anderer Menschen nicht unbedingt will, aber in Kauf nimmt. Ein derartiger Vorsatz kann schon für den Tatbestand des Mordversuchs ausreichen.
Verteidiger Meister hat Revision eingelegt. Nach den Gründen vom Gladbacher Tageblatt befragt, gab er an, die Strafe sei zu hoch. Sein Mandant habe keine Mordabsicht gehabt. Aden M. habe gewusst, dass überall Feuermelder waren. Außerdem habe sein Zimmer gegenüber dem Personalbüro gelegen, und auch deshalb musste der Brand schnell entdeckt werden.
Der Haftbefehl gegen den Angeklagten bleibt bestehen.
Unser Foto zeigt im Vordergrund Gerd Meister, im Hintergrund Aden M. und sein Dolmetscher.
Rhenanus